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Fashion Week: SHEIN betritt die Straßen von Paris

SHEIN eröffnet Stores in EuropaWas der Sprung des Ultra-Fast-Fashion-Riesen in den stationären Handel für Amazon, Otto und die gesamte Modewelt bedeutet

Vom Klick zum Kaufhaus – SHEIN wird physisch

Die chinesische Online-Plattform SHEIN, das Synonym für Ultra-Fast-Fashion (UFF), hat eine neue, strategische Entscheidung getroffen: Sie eröffnet ihre ersten permanenten physischen Läden in Frankreich. Dieser Schritt, weg von den bisher üblichen temporären Pop-up-Stores, markiert einen Wendepunkt. SHEIN, das als reiner Digital-Native den globalen Modehandel revolutioniert hat, betritt damit das Territorium, das es einst beinahe obsolet gemacht hatte: den stationären Handel.

Die Eröffnung von "Shop-in-Shops" in Kaufhäusern wie der Galeries Lafayette in Paris und weiteren französischen Städten (darunter Grenoble, Dijon und Reims) ist mehr als nur eine Expansion; es ist eine direkte Herausforderung an die etablierte europäische Konkurrenz und ein cleverer Schachzug in einem Markt, der zunehmend strengere Regularien für Fast Fashion einführt.

Um die Tragweite dieser Entwicklung zu verstehen, muss man den kometenhaften Aufstieg, das radikale Geschäftsmodell und die wirtschaftliche Macht von SHEIN und ähnlichen chinesischen E-Commerce-Plattformen beleuchten.

Die Geschichte des Ultra-Fast-Fashion-Modells

SHEIN, gegründet 2008 von Chris Xu (ursprünglich unter dem Namen "SheInside"), ist das Paradebeispiel für eine neue Welle des Online-Handels, die als Ultra-Fast-Fashion bekannt ist.

Vom Nischen-Online-Shop zum globalen Marktführer

Während traditionelle Fast-Fashion-Marken wie Zara und H&M ihre Kollektionen in Zyklen von Wochen herausbringen, revolutionierte SHEIN die Lieferkette durch das sogenannte "Real-Time-Fashion"-Modell. Der Hauptsitz in Guangzhou, China, nutzt ein hochgradig digitalisiertes Netzwerk von rund 6.000 Vertragspartnern in der Nähe.

Das Erfolgsgeheimnis: Daten und Algorithmen Anstatt auf traditionelle Modezyklen zu warten, analysiert SHEIN in Echtzeit Milliarden von Datenpunkten aus sozialen Medien (insbesondere TikTok und Instagram) und seiner eigenen App. Ein Algorithmus erkennt blitzschnell aufkommende Trends und gibt diese direkt an die Zulieferer weiter.

  1. Testproduktion: Die Fabriken produzieren neue Designs zunächst nur in extrem kleinen Chargen (wenige Hundert Stück).

  2. Skalierung: Wird ein Produkt schnell und häufig gekauft, wird die Produktion sofort hochgefahren – gesteuert durch ein automatisiertes Nachbestellsystem. Produkte, die floppen, werden sofort eingestellt.

Dieses Vorgehen ermöglicht es SHEIN, täglich bis zu 1.000 neue Artikel in den Shop zu stellen. Die extrem kurzen Zyklen von Design bis zur Lieferung (oft nur 7–10 Tage) machen SHEIN schneller, günstiger und flexibler als nahezu jeden Wettbewerber.

Ähnliche Plattformen: Temu und der Cross-Border E-Commerce

Der Erfolg von SHEIN ebnete den Weg für weitere chinesische Giganten, allen voran Temu. Temu, das unter dem Slogan "Shoppen wie ein Milliardär" auftritt, perfektioniert den Ansatz des Cross-Border E-Commerce, indem es No-Name-Artikel direkt von chinesischen Herstellern ohne Zwischenhändler zum Endkunden liefert. SHEIN, Temu und AliExpress sind dabei, die globale E-Commerce-Landschaft neu zu gestalten.

Der Wirtschaftliche Erfolg – Zahlen der Superlative

Die Plattformen haben in kürzester Zeit einen beispiellosen wirtschaftlichen Aufstieg hingelegt:

Metrik SHEIN – Statistische Kennzahlen (Stand 2023/2024)
Unternehmenswert Geschätzt ca. 64 Mrd. US-Dollar (Höchstwert 2022: 100 Mrd. USD)
Jahresumsatz (Global) Überholte 2023 H&M im Umsatz. Erwartet, 2024 Inditex (Zara) zu übertreffen.
Nettogewinn (2023) 2 Mrd. US-Dollar (Steigerung um 185 % ggü. Vorjahr)
Europa-Umsatz (2023) Ca. 7,7 Mrd. Euro (+68 % Wachstum)
Nutzerbasis (EU) Durchschnittlich 126 Millionen monatlich aktive Nutzer (Februar–Juli 2024)
Marktanteil Globaler Marktanteil im Bekleidungshandel 2024 stieg auf 1,53 %

Dieser Erfolg ist nicht nur auf die Preise zurückzuführen, sondern auch auf ein perfektioniertes Social-Media-Marketing. Die App ist eine der am häufigsten heruntergeladenen Shopping-Anwendungen weltweit. Insbesondere "Shein-Hauls" – Videos, in denen Influencer riesige Bestellungen auspacken – sorgen auf Plattformen wie TikTok für Milliarden von Aufrufen und treiben die "Wegwerfmentalität" in der Mode voran.

Die Bedrohung für Amazon und Otto

Der Aufstieg von SHEIN und Temu stellt für etablierte westliche E-Commerce-Giganten wie Amazon und insbesondere für Mode- und Versandhäuser wie Otto eine existenzielle Bedrohung dar.

1. Der Preis- und Geschwindigkeitskrieg

SHEIN und Temu setzen die Preise radikal unter Druck und schnappen gestandenen Playern Umsatz weg. Temu lag in Deutschland (gemessen an den Bestellungen) im zweiten Quartal 2024 bereits auf Platz vier hinter Amazon, eBay und Otto, zeigt jedoch die höchsten Wachstumsraten.

2. Unfaire Wettbewerbsvorteile

Etablierte europäische Händler sehen die unschlagbaren Preise der chinesischen Plattformen nicht nur als Ergebnis einer optimierten Lieferkette, sondern auch als Folge unfairer Wettbewerbsbedingungen.

  • Zollvorteile: Durch den direkten Versand aus China und das Aufsplitten großer Bestellungen in viele kleine Pakete können die Plattformen die europäische Zollfreigrenze für Kleinsendungen (unter 150 Euro) optimal ausnutzen. Dies spart Einfuhrumsatzsteuer und Zollgebühren, die europäische Händler, die ihre Waren im Voraus importieren und lagern, tragen müssen.

  • Logistik-Konkurrenz: Otto-Vorstand Marc Opelt und Branchenverbände kritisierten öffentlich, dass die asiatischen Billig-Anbieter die Luftfracht-Kapazitäten verstopfen und dadurch die Logistikkosten für alle anderen Marktteilnehmer in die Höhe treiben.

Die Reaktion der Etablierten: Für Amazon, das in Europa bislang nur wenige Antworten auf das Ultra-Fast-Fashion-Phänomen gefunden hat, wird der Druck im Mode-Segment immer größer. Otto und der deutsche Handel fordern von der EU eine stärkere Regulierung, um gleiche Wettbewerbsbedingungen zu schaffen und die Märkte vor oft minderwertiger Ware zu schützen.

3. Chance durch Vertrauen und Qualität

Die Unsicherheit der Kunden bietet jedoch eine Chance für Otto und Amazon. Studien zeigen, dass 60 % der Verbraucher Plattformen wie SHEIN und Temu in Bezug auf Produktqualität und Service als zu unsicher empfinden. Etablierte Händler können sich durch garantierte Qualität, transparente Lieferketten und zuverlässigen Kundenservice von der UFF-Konkurrenz differenzieren und profilieren.

Die Strategische Bedeutung der permanenten Stores in Frankreich

Warum geht SHEIN jetzt in den stationären Handel, wo doch das digitale Modell so erfolgreich ist?

  1. Markenbildung und Vertrauen: Physische Läden dienen als wichtige Brand Activation Points. Sie ermöglichen es Kunden, die Qualität der Ware vor dem Kauf zu prüfen – ein wichtiger Schritt zur Überwindung der Skepsis, die viele Kunden gegenüber der Online-Ware haben.

  2. Adressierung von Regulierungen: Die Eröffnung der Läden in Frankreich erfolgt, während das Land aktiv Gesetze zur Eindämmung der Umweltauswirkungen von Fast Fashion diskutiert. Permanenter physischer Präsenz zu zeigen, könnte Teil einer Strategie sein, sich als ernsthafter Akteur mit lokaler Infrastruktur darzustellen und nicht nur als reiner "Cross-Border"-Versender.

  3. Wachstum in gesättigten Märkten: Um weiterhin die ambitionierten Wachstumsziele zu erreichen, muss SHEIN neue Kanäle erschließen und seine Marke in westlichen Metropolen verankern. Die Zusammenarbeit mit renommierten Kaufhausketten wie Galeries Lafayette sorgt sofort für einen Qualitätssprung im Markenimage.

Die Expansion von SHEIN in den französischen Einzelhandel ist ein klares Signal: Der Ultra-Fast-Fashion-Riese gibt sich nicht mehr damit zufrieden, nur die digitale Welt zu dominieren. Er dringt in die Fußgängerzonen Europas vor.

Für Amazon und Otto bedeutet dies, dass die Konkurrenz nicht nur im virtuellen, sondern nun auch im realen Raum spürbar wird. Sie müssen dringend eine Antwort auf das radikale UFF-Modell finden – sei es durch eigene, schlankere, datengetriebene Angebote oder, was wahrscheinlicher ist, durch die klare Positionierung auf Qualität, Vertrauen und Nachhaltigkeit, um sich als sichere und ethisch verantwortungsvolle Alternative zu profilieren. Die Zukunft des Modehandels wird zwischen extremen Preispunkten und kompromissloser Verantwortung entschieden.

06.10.2025

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