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Die Story im Ersten: Das System Amazon

Am Montagabend lief in der ARD Das System Amazon, eine leider etwas schmal recherchierte Reportage von Andreas Bernardi über den Online-Handel im Allgemeinen und die Marktmacht von Amazon im Besonderen. Nettes, ums Überleben kämpfende Wollgeschäft in der Innenstadt vs. pöhsen, mafiösen Online-Handelsriesen. Ich hätte es mir etwas differenzierter gewünscht. Darüber hinaus bin ich mir nicht sicher, was mich mehr erschreckt hat: Die wohl durchaus vorkommenden Methoden bei Amazon, Händler unter Druck zu setzen - oder die Unbedarftheit des Einzelhandels, sich im Jahr 2017 noch immer so wie im Film dargestellt in der IT- und Online-Welt zu bewegen.

Über zwei Drittel aller Deutschen kaufen online. Ob vom heimischen Sofa aus oder mobil und unterwegs via Smartphone. Zentrale Anlaufstelle für viele Kunden ist Platzhirsch Amazon. Offenbar mit Erfolg, erst kürzlich wurde vermeldet, dass der Sparstrumpf von Jeff Bezos auf mittlerweile 100.000.000.000 Dollar angeschwollen ist, der Marktwert seiner Firma Amazon beläuft sich gar auf 427.000.000.000 Dollar - Platz 4 in der illustren Liste der wertvollsten Unternehmen der Welt. Klar, dass man mit dieser Marktmacht bestimmen kann und bestimmen will, was im Handel läuft.

Investigatives Selbstbeweinen

Die Story im Ersten: Das System AmazonDass in dieser Konstellation nationale Gesetze als eher lästig empfunden werden, liegt ebenso in der Natur der Sache - zumal es die deutsche Politik seit 20 Jahren verschlafen hat, entsprechende Rahmenbedingungen zu schaffen, die dazu beitragen, global agierende Großkonzerne wenigstens etwas an die Leine zu legen. Alleine die Tatsache, dass Unternehmen wie Amazon hierzulande kaum Steuern zahlen, schafft eine immense Wettbewerbsverzerrung zum Nachteil hiesiger mittelständischer Unternehmen - ein Punkt, der in der ARD-Reportage noch nicht einmal angesprochen wurde. Stattdessen wurden gebeutelte Einzelhändler vor die Kamera berufen, die ihr geschäftliches Scheitern medienwirksam dem Online-Händler aus Übersee in die Schuhe schieben durften.

Ich will gar nicht in Abrede stellen, das es bei der "Mutter aller Buchläden" Methoden gibt, die Händlern das Leben schwer machen - Gängelei bis hin zur Geschäftsaufgabe. Das ist die Unternehmensethik global agierender Großkonzerne, die keinesfalls auf amerikanische Unternehmen beschränkt ist, wie das aktuelle Beispiel SIEMENS zeigt. Und diese Ethik unterscheidet sich nun einmal brachial von der eines badischen Weinhändlers, eines Gewürzverkäufers oder einer von zwei enthusiastischen Fast-Rentnerinnen betriebenen Kurzwarenhandlung.

Und da offenbaren sich die Versäumnisse dieser Klientel, die seit fast zwei Jahrzehnten zu beobachten sind: Neuland-Mentalität mit allenfalls rudimentären IT-Kenntnissen, staunend sitzt man im Jahr 2017 in einem Seminar für Einzelhändler und lässt sich Online-Shopping erklären. Warum hat man die Entwicklung der Online-Medien so lange um sich herum geschehen lassen - anstatt das Heft in die Hand zu nehmen und selbst zum Online-Händler zu werden? Entgegen dem Grundtenor der ARD-Reportage gibt es doch auch hierzulande lokale Händler, die diese Strategie in den letzten Jahren erfolgreich umgesetzt haben - übrigen mit oder ohne Amazon. Leider kein Wort davon in der Dokumentation, kein Beispiel erfolgreicher Geschäftsentwicklungen, stattdessen Klagen von Einzelhändlern, die sich nicht selten ein wenig aus der Zeit gefallen präsentieren.

Vor der Haustür

Und auch in meinem direkten lokalen Umfeld immer wieder Beispiele grandiosen Scheiterns, weil man die Zeichen der Zeit jahrelang ignoriert hat. Soeben hat um die Ecke ein nettes, gemütliches und mit einer wirklich guten Küche arbeitendes Restaurant dichtgemacht - es gab keine Website, kein Engagement in den sozialen Medien, keine Werbung, kein Lieferdienst. Ich sehe da einen direkten Zusammenhang. Wie soll das denn im Jahre 2017 funktionieren? Die Gäste von heute ergoogeln sich ihren Restaurantbesuch, zu blöd, wenn das Lokal dann nirgendwo genannt wird. Na immerhin hat man Visitenkarten ausgelegt. Ein Stück weiter gab's mal einen wirklich schönen Klamottenladen für die attraktiv wirken wollende Stadtlady - schicke Mode zu fairen Preisen, präsentiert in durchaus stylishem Ambiente. Website: Letzte Änderung 2002, darüber hinaus keinerlei Online-Aktivitäten, kein Markenaufbau, keine Neuigkeiten aus der Modewelt, keine Influencer, die die Kunden pfiffig, zeitgemäß und wortgewandt auf die Marke einschwören.

Aber es scheint ja auch viel einfacher zu sein, auf den Online-Handel zu schimpfen, als einfach mal das eigene Geschäftsmodell zu hinterfragen. Ein tragisches Versäumnis, denn die jetzt heranwachsende Generation ist mit Internet, sozialen Netzwerken und Online-Shopping großgeworden - die sogenannten Stammkunden hingegen, die alle paar Wochen mal vorbeigedackelt kommen, werden älter und in absehbarer Zeit überhaupt nicht mehr vor der Tür stehen.

Shopware

Umso mehr gebührt Dank und Respekt den Entwicklern und Vertrieblern beispielsweise der Shopware AG, die den Einzelhändlern fantastische und intuitiv zu bedienende Werkzeuge in die Hand geben, damit diese erfolgreich im Online-Geschäft mitmischen können. Mit Shopware Connect steht darüber hinaus eine Plattform zur Verfügung, die es ermöglicht, Händler in der Manier eines sozialen Netzwerks zu verbinden und Produkte zu "sharen", was weit über das "Kunden kauften auch" von Amazon hinausgeht. Ladenbesitzer werden von den Jungs aus Schöppingen nicht nur im eigentlichen Umgang mit der Software geschult, sondern bekommen fundiertes Rahmenwissen, welches befähigen soll, ein Online-Business hochzuziehen. Auch das ist für viele schon wieder eine Belastung, die sie lieber vermeiden würden, das hat die Dokumentation klar gezeigt. Klar, da müssen Bilder gemacht werden, da müssen Inhalte gepflegt werden, da muss einiges in die Suchmaschinenoptimierung gesteckt werden - alles Dinge, die man früher nicht zu tun brauchte.

Als positives Beispiel wurde mehrfach Mein Heilbronn herausgestellt - der Filmemacher hat offenbar einen "Draht" in diese Gegend. Doch zweifellos einer der gangbaren Wege für den Einzelhandel, auch wenn es bei dem Projekt in Sachen Usability, SEO und vor allem Ladezeiten noch ordentlich Luft nach oben gibt.

Eins hat Andreas Bernardis Reportage klar und deutlich gezeigt: Der deutsche Einzelhandel - und damit ist bei weitem nicht nur der kleine Laden an der Ecke gemeint - liegt um viele Jahre zurück, wenn es darum geht, digitale Strategien in das eigene Geschäftsmodell einzubinden. Und so machen eben die Großen die Regeln, was bewirkt, dass Einzelhändler und mit ihnen ganze Sortimente aus den frequentierten Innenstadtlagen verschwinden. Das SYSTEM Amazon jedenfalls wurde in der Dokumentation nicht wirklich hinterfragt - es wurden lediglich ein paar unschöne Auswüchse gezeigt, die jedoch von der Politik und den Verbänden angegangen werden müssen. Es liegt an der Branche selbst, aus dem wohligen Winterschlaf aufzuwachen und ihr Business wieder selbst in die Hand zu nehmen.

Michael Schmidt

28.11.2017

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